Rede von Ilse Kokula



Dokumentation der Rede von Ilse Kokula ("Entdeckerin" der ersten Schrift Johanna Elberskirchens, promovierte Sozialwissenschaftlerin und 1985/1986 erste Lehrstuhlinhaberin auf dem Belle-van-Zuylen Wechsellehrstuhl an der Rijksuniversiteit in Utrecht/Niederlanden), die sie während der Gedenkfeier für Johanna Elberskirchen und Hildegard Moniac am 23. August 2003 auf dem Friedhof Rudolf-Breitscheid-Straße in Rüdersdorf gehalten hat:


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,


Erinnern und Nicht-Vergessen,


unter dieses Motto möchte ich den heutigen Tag stellen. Gruppen und Menschen, an die man sich nicht erinnert, die vergessen sind, sind und werden diskriminiert. Ich danke der Gemeinde Rüdersdorf und ihren Gemeindevertretern herzlich, daß sie das Tabu des Vergessens brechen und zwei verstorbene, lesbische Mitglieder ihrer Gemeinschaft durch diesen Festakt ehren.


Ich wurde gebeten von der "Entdeckung" Johanna Elberskirchens zu berichten.


Vor mehr als 25 Jahren machte ich mich auf die Suche meiner lesbischen "Vorfahren". Anfang der 70er Jahre wußten wir jungen Frauen und Männer der Emanziationsbewegungen der Lesben und Schwulen nicht, daß wir eine Geschichte der Verfolgung und eine Geschichte des - nicht mehr sichtbaren Widerstands – hatten. Wir wußten damals nicht, daß wir Vorgängerinnen und Vorgänger hatten. Uns standen zur Orientierung nur die Bücher der Psychiater, Psychologen und Priester zur Verfügung. Als Folge der Nazizeit und des Kalten Krieges wußten wir nichts über "unsere Geschichte".


Dieser verborgenen Geschichte wollte ich nachgehen und recherchierte im Rahmen meiner Diplom- und Doktorarbeit. Wie andere betrat ich Neuland, denn in den Bibliotheken war herzlich wenig zu finden, in der Nazi-Zeit waren sie "gesäubert"! worden. Eher durch Zufall stieß ich Ende der 70er Jahre auf Johanna Elberskirchen, die kurz nach der Jahrhundertwende viel geschrieben und publiziert hatte. Wir, die wir uns auf die Spurensuche gemacht hatten, stöberten in Archiven und Antiquariaten und tauschten unsere Funde aus.


1981 erschien mein Buch "Weibliche Homosexualität um 1900 in zeitgenössischen Dokumenten", das ein Teil meiner Doktorarbeit wurde. In ihm ist ein längerer Auszug aus der Streitschrift von 1904 von Johanna Elberskirchen "Was hat der Mann aus Weib, Kind und sich gemacht? Revolution und Erlösung des Weibes".


Bald darauf entdeckte ich eine weitere Schrift von ihr und teilte dies Manfred Herzer mit – mit dem ich damals Entdeckung teilte. Er arbeitete gerade an der Erstellung einer "Bibliographie zur Homosexualität", dem ersten Verzeichnis des deutschsprachigen nichtbellestristischen Schrifttums zur weiblichen und männlichen Homosexualität aus den Jahren 1466 bis 1975, die 1982 erschien. Er dankte mir am 06. Juni 1981 und schrieb: "Von der Schrift von Elberskirchen wußte ich bislang nichts. Sie ist ja ein wirklicher Leckerbissen." Auf diesem Weg fand "Die Liebe des dritten Geschlechts. Homosexualität, eine bisexuelle Varietät. Keine Entartung – keine Schuld" von 1904 Eingang in die Bibliographie.


Wir erinnern uns, daß Frauen erst ab 1908 in Deutschland studieren konnten, erst ab 1918 erhielten sie das Wahlrecht. Darüber hinaus gab es noch weitere Maßnahmen, um Frauen von der Wahrnehmung ihrer Interesssen ab- und von der wissenschaftlichen Diskussion fernzuhalten. So gab es Vorschriften, die eine gemeinsame Teilnahme von Frauen und Männern an Veranstaltungen mit sexualkundlichen Themen verboten.


Johanna Elberskirchen war trotz dieser Behinderungen eine der produktivsten Frauen auf dem Gebiet der sexologischen Literatur. Für sie war "die Zuneigung von Personen des gleichen Geschlechts zueinander" keine "krankhafte Äußerung des Geschlechtstriebes". In dem aus drei dicken Aufklärungsbänden bestehenden "Mann und Weib. Ihre Beziehungen zueinander und zum Kulturleben der Gegenwart" von 1907 findet sich der umfangreiche Artikel "Das Geschlechtsleben des Weibes", indem sie ihre Auffassung von der lesbischen Liebe Ausdruck verleiht. Hier spricht sie von "meiner wissenschaftlichen Überzeugung" und geht davon aus, daß man "den auf das eigene Geschlecht gerichteten Liebestrieb auch so wenig als krankhaft bezeichnen kann, wie den normalen."


Johanna Elberskirchen vertrat damit eine Auffassung, die erst jetzt zu Beginn des dritten Jahrtausends langsam Allgemeingut wird.


Diese Feier trägt dazu bei. Ich danke Ihnen dafür.



© Ilse Kokula (Berlin/Rüdersdorf 2003)